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Elementi 05: Musiktherapeutische Möglichkeiten

Aus dem breiten Spektrum, das die Musiktherapie zur Entwicklung persönlichkeitsfördernder Prozesse bietet, möchte ich hier Erfahrungen aus meiner Tätigkeit in einer psychiatrischen Klinik schildern. Im Bereich dieser Klinik gab es offene und geschlossene Stationen. Ich hatte die Aufgabe, mit Patienten, die sich relativ frei bewegen konnten, musiktherapeutisch zu arbeiten. Für mich bedeutete dies, ein erlerntes Konzept in der Praxis anzuwenden. Ich spürte aber mehr und mehr aus meinem inneren Bewusstsein heraus den Wunsch, mich gerade mit jenen Menschen zu beschäftigen, die auf den geschlossenen Stationen mehr oder weniger lethargisch den Tag absassen. Mit Trommeln, Xylophonen und Klangstäben versuchte ich die Menschen aufmerksam zu machen und sie über den Spieltrieb zu eigenen Körpererfahrungen anzuregen. Einige Teilnehmer taten sich am Anfang sehr schwer. Schon nach kurzen Einsätzen wollten sie aufgeben. Einige wenige zeigten keine Bereitschaft. Im Laufe der Stunden konnte ich feststellen, dass sich mehr und mehr Eigenenergie freisetzen konnte. Wichtig war für mich auch die Kooperation mit der ärztlichen Seite, um die meiner Ansicht nach zu hoch dosierten Psychopharmaka auf eine Mindestmenge zu reduzieren. Der Arzt erkannte die positive Veränderung und war auch bereit, eine ungewohnte Alternative zu unterstützen. Nach den ersten Grunderfahrungen waren einige Teilnehmer nicht wiederzuerkennen.

Unvergesslich wird mir ein Erlebnis mit einer alten Dame bleiben. Auf einer Station kam ich immer wieder an einem Zimmer vorbei, dessen Tür offenstand. Dort sah ich eine ältere Patientin, die ständig die Wand anstarrte. Ich erkundigte mich nach ihr und erfuhr, dass es sich um eine achtzigjährige Frau handelte, die nicht rede, sehr aggressiv sei und alleine sein wolle. Jeder Versuch, eine zweite Person in ihr Zimmer zu legen, scheiterte an ihrer unkontrollierbaren Aggressivität. Irgendwie spürte ich, dass hier noch etwas zu erledigen sei. So nahm ich eines tages einige Instrumente und setzte mich zu ihr ins Zimmer. Kaum sah sie mich, da fühlte ich ihre Aggressivität. Sie schrie mich an: ”Raus da, das ist mein Zimmer.” Ich liess sie gewähren, nahm eine Trommel und versuchte ihren Tonfall rhythmisch nachzutrommeln. Sie hielt sich beide Ohren zu. ”Aha”, dachte ich, ”sie empfindet ja noch.” Aber offensichtlich gefiel ihr das Trommeln nicht. Ich nahm dann ein Metallxylophon und schlug einige Töne an. Da schrie sie wieder: ”Hau ab mit deinem Kirmeskram.” Ich schlug einige Holzstäbe an, nur kurz, drei- bis viermal, und sah in ihrem Ausdruck zum ersten Mal keinen Widerstand.

Es gehört zu meiner Arbeitsweise, ständig Blickkontakt mit meinen Partnern zu halten, um auf jede Regung augenblicklich reagieren zu können. So können Negationen sofort ausgeglichen und positive Regungen, und seien sie auch noch so unscheinbar, sofort verstärkt werden. Immer wieder wiederholte ich den Dreiklang, der die Frau offenbar ansprach und veränderte den Rhythmus entsprechend ihren Reaktionen. Sie schien interessiert. Ich hielt ihr einen Schlegel hin und forderte sie mimisch und gestisch auf, auch auf diese Hölzer zu schlagen. Zögerlich und noch etwas skeptisch schlug sie einen leisen Ton an. Nun hatte ich den Kontakt und schob ihr die Führungsrolle zu, indem ich genau das wiederholte, was sie vorgab. Das schien ihr zu gefallen . Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dabei beliess ich es in der ersten Stunde. In der nächsten Stunde zeigte sie sich noch aufgeschlossener. In allen Stunden hielt ich mein Anfangsritual bei: Sobald ich in ihr Zimmer trat, spielte ich den Dreiklang, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Das förderte ihr Vertrauen zu mir. Dann versuchte ich, die Stimme mit einzubringen, indem wir zunächst den Dreiklang und später beliebige Rhythmen dazu sangen. Sie begann plötzlich Lieder zu singen, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Für mich wurde diese Frau zu einer wahren Fundgrube an Liedern und Abzählreimen.

Eines Tages begann sie mir von ihrer Jugendzeit zu erzählen, von ihren Eltern. Dem Bauernhof mit Gastwirtschaft und den damals seltenen Festlichkeiten. Sie war wieder das kleine Mädchen, das sich an viele Einzelheiten erinnerte. Was sie auch immer in ihrem Leben an Schwerem erfahren hatte, jetzt konnte sie wieder lachen und erzählen und sass auch nicht mehr alleine in ihrem Zimmer. Sie nahm die Mahlzeiten mit den anderen im Tagesraum ein und war offen für Gespräche mit dem Personal.

Auch für den Arzt war diese Entwicklung erstaunlich. Medizinisch wird in solchen Fällen allzu oft von Altersstarrsinn oder irreparablen Zerstörungen im Gehirn gesprochen. Aber es gibt in unserem Gehirn und Körper Vorgänge, die medizinisch nicht erfassbar sind, weil sie nicht der Lehrmeinung entsprechen. Ich möchte allen, die sich mit Musiktherapie beschäftigen, Mut machen, gerade die unabwägbaren Mechanismen durch Rhythmus, Klang, Stimme und Bewegung wieder zum Leben zu erwecken, so dass die Schulmedizin irgendwann erkennt, dass es auch Gesetzmässigkeiten gibt, die ausserhalb ihrer bisherigen Regeln liegen.

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